Hof-nung

Und ich kann wieder atmen.

Können ist so eine Sache. Prüft deine Fähigkeit, hält aber die Lage gefangen. Die externe und die gedankliche. 

Was brauchst du denn nur zum Atmen? Eine Nase, so die Fähigkeit und die Luft, die externe Lage.  

Was aber, wenn die Luft dir nur nicht passt? Wenn sie zu dir nicht gehört? Wenn sie dich nicht auffrischt?

Auffrischen heißt so viel wie wieder erneut machen. Wieder erneut. Wieder deutet auf ein früher hin. Auf einst. Es muss etwas gewesen sein, bevor (und sodass) du zum erneuten Zustand wieder kommen kannst.  

Ich kann nun wieder atmen. Die Luft hier frischt mich auf. Lässt mich zum früher verbinden. Bringt das früher in mich hinein. Die Vergangenheit verliert dabei ihr Verlorensein, für einen Atemzug ihre Vergänglichkeit. Sie lebt in mir wieder, wird durch diesen Atem belebt, wird zu meiner Gegenwart. Noch einmal. 

Mein Inneres kennt die Luft. 

Sie riecht nach Papas Hemden. 

Er fuhr mich auf dem Mofa zum Kindergarten. Ich saß hinten und hielt ihn, sodass ich nicht hinunter fiel. Ich umarmte seinen Bauch und streckte meine Hände zu, bis sie einander fanden. Ich war ein Känguru; aus meiner Bauchtasche sprang mein Papa hinaus und fuhr das Mofa. Um mir dies hautnah vorstellen zu können, musste ich mein Gesicht dicht an seinen Rücken eindrücken. Ich mochte seine Hemden, sie waren weich und lieblich, rochen nach ihm. Die Fahrten zogen Geborgenheit über mein Gesicht.

Die Luft riecht nach Mamas Parfüm. 

Nachmittags, wenn ich von der Schule nach Hause kam, setze ich mich auf die erste Stufe im Treppenhaus und rief ihr nach: “Aai! Aaiiiiiiiii!”. Sie sollte mich jeden Tag von dieser ersten Stufe abholen und mich nach oben begleiten. Ich mochte das, auf der Stufe auf sie zu warten, prüfte jeden dazwischen fallenden Atemzug, bis einer ihr Parfüm zu mir brachte und mir sagte: “Du bist nun zu Hause. Es it okay. Alles ist okay.” Und ich kletterte hinauf wie Alexander. Ich war plötzlich Kaiser und Mama duftete mein Reich.   

Einer meiner Untertanen war mein Bruder. Wir tauschten. Ich war Kaiser, er Untertan — die ich-Perspektive. Er Kaiser, ich Untertan — die er-Perspektive. Wir waren zu ernst, zu gemein, zu sehr in einander verliebt. Wir lachten die anderen aus, weinten alleine für einander, lernten kennen, das auch Geheimnisse aus Liebe stammen können. Er war groß, charmant, und schnell. Ich war langsam und kannte keinen Scham. Seine Handschrift war Kunst. Solche, die heilt, weil sie so schön ist. Schönheit ist die älteste Heilkunst der Welt. Nee, der Natur.

Die Luft riecht nach seiner Handschrift. 

Und nach feuchten Spielzeugen, Bilderrahmen, Koffern, Schultaschen, Büchern, Geschirr, Tennisschlägern, Kalender, der immer den den Monat unseres Umzugs schilderte. Mai 2001. 

Und heute ist es Dezember 2020. Schon neunzehn Jahre und sieben Monate leben wir nicht mehr hier. Ich bin mittlerweile verheiratet, Vater und über vierzig. Mein Papa ist schon tot. Es ist Winter. 

Doch in diesem Hof lebt er noch. Hier scheint bisher die Sonne vom Mai 2001. Alle Erinnerungen im goldenen Licht. 

Atmend. Herzerwärmend. Heilend.  

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